Nejat Mashali steigt auf den Tretroller, greift den Lenker und legt ihre Finger auf die Bremsen. Dann atmet sie einmal tief durch, stößt sich mit dem Fuß ab – und rollt los. Zunächst ist die 54-Jährige etwas wacklig unterwegs, doch es dauert nicht lang, dann fährt sie schon eine große Runde über das Gelände.
Heute lernt Nejat Mashali das Fahrradfahren. Gastgeber ist der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC). Seit fast 20 Jahren bringt der Verein erwachsenen Duisburgern das Radfahren bei. Und der Bedarf ist groß. Wenn der ADFC zur Radfahrschule lädt, sind die Kurse im Nu ausgebucht.
„Die Teilnehmer lernen hier das Fahrradfahren in ganz, ganz kleinen Schritten“, sagt ADFC-Fahrrad-Coach Harald Höbusch (64). „Es geht darum, an insgesamt vier Tagen ein Vertrauen zu seinem Fahrrad aufzubauen. Schließlich wollen wir das Gefährt beherrschen – und nicht von ihm beherrscht werden.“
Dass Kinder oder Jugendliche das Radfahren nicht erlernen, kommt häufiger vor, als man denkt. Manche Eltern haben kein Geld, ihren Kindern ein Fahrrad zu kaufen, andere sorgen sich um die Sicherheit ihres Nachwuchses. Manche Kinder haben Angst vor der Geschwindigkeit oder vor Stürzen. Oft sind es aber auch kulturelle Gründe.
„Ich bin im Iran aufgewachsen“, erzählt Nejat Mashali während einer Übungspause. „Dort dürfen Mädchen nicht Fahrrad fahren. Das ist Jungs-Sache.“ Als sie im Alter von 18 Jahren nach Deutschland kam, hatte sie schon einen Autoführerschein. „Warum also noch Radfahren lernen? Ich kam doch überall hin.“
Später standen dann die Arbeit als Krankenschwester und die Erziehung der Kinder im Mittelpunkt – fürs Radfahren war da keine Zeit. „Ich wollte es eigentlich immer lernen“, sagt Nejat Mashali, „aber irgendwann war auch ein Punkt erreicht, an dem es mir peinlich war, dass ich etwas nicht konnte, was für alle anderen scheinbar selbstverständlich war.“
Die Teilnehmer der Fahrradfahrschule parken nun ihre Tretroller. „Das habt ihr alle sehr gut gemacht“, lobt Harald Höbusch und schiebt ein Fahrrad auf den Hof. Die Pedale sind abmontiert, der Sattel ist in der niedrigsten Sitzposition fixiert. „So erreicht Ihr jederzeit mit Euren Füßen den Boden.“ Bei der folgenden Übung steht das Bremsen im Vordergrund. „Ihr sollt ja nicht nur fahren können, sondern auch kontrolliert anhalten“, sagt Harald Höbusch.
Nejat Mashali hat nach den ersten zwei Stunden bereits große Fortschritte gemacht. Als sie das Radfahren vor einigen Monaten ohne professionelle Hilfe ausprobierte, landete sie noch in einem Brennnesselstrauch. Heute kurvt sie mit dem Fahrrad souverän über das holprige Kopfsteinpflaster, stoppt es aber auch im entscheidenden Moment an der richtigen Stelle. „Das fühlt sich super an“, ruft sie im Vorbeifahren.
Der neue Lebensgefährte von Nejat Mashali ist begeisterter Radfahrer. Regelmäßig bricht er mit seinem E-Bike zu 30-Kilometer-Ausfahrten auf. „Er ist auf diesen Kurs aufmerksam geworden, hat mir davon erzählt – und ich habe mich angemeldet“, sagt Nejat Mashali. „Wenn ich bald wirklich Radfahren kann, kaufe ich mir ein eigenes Rad und wir können gemeinsam auf Tour gehen.“
Dass sie sicher auf zwei Rädern unterwegs sein wird, daran hat Harald Höbusch keinen Zweifel. „Wer das Radfahren wirklich lernen möchte, der lernt es auch“, sagt der erfahrene ADFC-Trainer, „und ich sehe hier heute niemanden, der es nicht lernen wird.“
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