Seit 1962 wohne ich genau hier
Fast das ganze Leben in ein und derselben Stadt zu verbringen: für viele Menschen heutzutage unvorstellbar. Nach dem Schulabschluss zieht es insbesondere die Jungen in ferne Länder oder wenigstens zum Studium in eine andere Stadt. Wir leben in einer Zeit, in der auch eine feste Arbeitsstelle nicht mehr zwingend bedeutet, dass man jeden Tag ins Büro an den immer gleichen Schreibtisch geht – das wissen wir spätestens seit der Pandemie.
Allein, aber nicht einsam
Ganz anders gelaufen ist das Leben von Dagmar Tysiak: „Seit 1962 wohne ich genau hier, in Neudorf, in genau dieser Wohnung – und vorher fast immer irgendwo in Duisburg“, berichtet die gebürtige Beeckerwertherin. „Wir hatten zwar auch viele Jahre einen Zweitwohnsitz im Sauerland, das war auch schön dort, aber meine Heimat, das war immer nur Duisburg.“ In den 1960er-Jahren wurden die Gebäude für städtische Bedienstete errichtet – heute leben noch vier Mieterinnen der ersten Stunde in ihren Wohnungen. Der Kontakt zwischen den vier Damen ist bis heute bestehen geblieben, jeden Morgen ruft man sich an, um ein kurzes Lebenszeichen zu geben. Doch natürlich hat sich die Nachbarschaft im Haus im Vergleich zu früher heute verändert: „Früher kannte hier jeder jeden, es herrschte eine enge Gemeinschaft. Das ist heute ein wenig anders. Viele Nachbarn arbeiten Vollzeit und kommen erst abends aus dem Büro wieder, da ist der Kontakt natürlich zwangsläufig weniger eng“, so Dagmar Tysiak. Dennoch: „Ich lebe zwar allein, aber ich bin nicht einsam!“
93 Jahre, davon die meiste Zeit in ein und derselben Stadt: eine ganz schön lange Zeit. „Wenn ich so zurückschaue, dann fühlt es sich aber gar nicht so lang an. Es kommt eben darauf an, wie ausgefüllt das eigene Leben ist. Und ich finde, dass ich ein bis hierher sehr erfülltes Leben hatte“, findet Dagmar Tysiak. Und das hat für die 93-Jährige gar nicht zwingend etwas mit materiellem Reichtum zu tun: „Wissen Sie, Glück oder Freundschaft, das können Sie nicht kaufen. Schöne Erinnerungen und Erlebnisse, die mich bis heute glücklich machen – auch das hat nichts mit dem großen Geld zu tun.“
Eine Ehe beginnt in Alsum
Eine besonders schöne Erinnerung wurde just vor einigen Monaten wieder geweckt, als Dagmar Tysiak in der tach. blätterte und über die Geschichte des versunkenen Stadtteils Alsum stolperte: „Wissen Sie, ich habe meinen Mann 1949 in Alsum kennengelernt, vor über 70 Jahren! Er spielte dort in einem kleinen Fußballverein und meine Freundin hat mich mitgenommen – so haben wir uns also eher durch Zufall kennengelernt. Wir haben dann zwei Jahre später geheiratet und waren über 50 Jahre verheiratet, bis mein Mann 2007 an den Folgen einer MRSA-Infektion verstorben ist.“ Der multiresistente MRSA (kurz für Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus) ist auch bekannt als „Krankenhauskeim“. Nachdem ihr Mann starb, gründete Dagmar Tysiak eine Selbsthilfegruppe für Menschen, deren Leben ebenfalls vom MRSA-Keim (direkt oder indirekt) betroffen ist und engagierte sich intensiv für Aufklärung in Sachen MRSA und die Verbesserung der Hygienezustände in Krankenhäusern. Für ihr Engagement wurde ihr 2018 das Bundesverdienstkreuz verliehen – und zur Verleihung hatte ihre Enkelin Marie Tysiak eine ganz besondere Überraschung parat: das Buch über das Leben von Dagmar Tysiak.
Doch wie kam es eigentlich dazu? „Meine Oma hat schon immer viele Geschichten von früher erzählt, vor allem viele kleine Alltagsgeschichten aus der Schulzeit und der Zeit des Kriegs“, erinnert sich Marie Tysiak. „Sie hat immer gesagt: ‚Die großen Geschichten kann man in den Geschichtsbüchern nachlesen, aber was ist mit den kleinen Geschichten, die den Alltag ausmachen? Sollte man das nicht festhalten?‘ So entstand dann die Idee zum Buch. Und 2018 war es endlich so weit: Pünktlich zur Verleihung des Bundesverdienstkreuzes haben meine Schwester und ich die vielen Geschichten meiner Oma endlich niedergeschrieben und als Buch drucken lassen. Das war eine schöne Überraschung, als wir zum Festakt dann das Buch hervorzaubern konnten!“
Kollektive Erinnerung
Das 100 Seiten starke Werk beschreibt das Leben von Dagmar Tysiak in all seinen bunten Facetten – mal lustig (wie die Erzählungen darüber, wie die Kinder in Windeseile aus der Gastwirtschaft nach Hause liefen, damit das frisch gezapfte Bier im Krug für die Väter noch eine schöne Schaumkrone hatte), mal erschreckend (wie die junge jüdische Lehrerin, die während der NS-Zeit eines Tages plötzlich verschwunden war), mal gefühlvoll und ernst (wie die Schilderungen über das schlimme Heimweh während der Kinderlandverschickung in der ehemaligen Tschechoslowakei). Eines haben alle Geschichten gemeinsam: Sie sind echt und „sie treffen ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Generation. Es gibt so viele Menschen, die genau solche Dinge erlebt haben, das habe ich auf meiner Lesereise immer wieder gemerkt. Darum war es uns so wichtig, diese Dinge festzuhalten“, resümiert Enkelin Marie Tysiak. Großmutter Dagmar Tysiak ergänzt ein wenig philosophisch: „Unsere Zeit setzt sich aus so vielen kleinen Dingen zusammen – eben nicht nur aus den großen Momenten! Und wenn all das vergeht, ohne dass sich jemand daran erinnert, dann stirbt auch viel unserer Geschichte…“
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